Kassandra in Mogadischu
Roman
von Igiaba Scego
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Erscheinungstermin 25.09.2024 | Archivierungsdatum 24.11.2024
Zum Inhalt
»Igiaba Scego ist Italiens zurzeit wohl interessanteste Schriftstellerin.« Frank Hornig, Der Spiegel
Wie erzählt man die Geschichte einer Familie, wenn die gemeinsame Sprache in der Diaspora verloren geht? Wenn die Erinnerungen trügen und geliebte Verwandte seit Generationen in die ganze Welt zerstreut leben? In ihrem gefeierten autofiktionalen Roman geht die große italienische Erzählerin Igiaba Scego auf Spurensuche zwischen Mogadischu und Rom. Sie erzählt von verloren geglaubten Müttern und wiedergefundenen Brüdern, von einer Kindheit als Hirtin und der Schule in Rom-Nord, von Verletzungen der Kolonialgeschichte, die sich über die Generationen tragen – und von der großen Hoffnung, die im Erzählen liegt.
»Scego schreibt blendend und dringlich, in einer Sprache, die ganz ihr gehört. Dieses Buch muss gelesen werden.« Jhumpa Lahiri
»Eine der wichtigsten Stimmen Italiens.« The Guardian
»Igiaba Scego ist Italiens zurzeit wohl interessanteste Schriftstellerin.« Frank Hornig, Der Spiegel
Wie erzählt man die Geschichte einer Familie, wenn die gemeinsame Sprache in der Diaspora verloren...
Verfügbare Ausgaben
AUSGABE | Anderes Format |
ISBN | 9783103976199 |
PREIS | 26,00 € (EUR) |
SEITEN | 416 |
Auf NetGalley verfügbar
Rezensionen der NetGalley-Mitglieder
Dass auch Italien bis zum zweiten Weltkrieg Kolonien in Afrika hatte, unter anderem Somalia, - das scheinen heutzutage selbst viele Italiener vergessen zu haben. Und so überrascht es viele auch, dass es eine afrikanisch geprägte italienischsprachige Literatur gibt, die aber naturgemäß aus deutlich anderem Blickwinkel und über deutlich andere Themen berichtet, als diejenige italienische Literatur, die nur auf dem kulturellen Humus der Stiefelrepublik wächst. Diese italo-somalische Literatur fristet schon in Italien ein Nischendasein, - international wird sie noch viel weniger wahrgenommen.
Umso lobenswerter ist es, dass der S. Fischer Verlag nun den neusten Roman der bekanntesten Vertreterin dieser Italo-Somalischen Literatur für das deutschsprachige Publikum zugänglich gemacht hat: Kassandra in Mogadischu, erschienen pünktlich kurz vor der Frankfurter Buchmesse, bei der Italien ja dieses Mal auch Gastland war.
Wie viele andere Politiker, Intellektuelle, Kulturschaffende, verließen die Eltern Scego also Somalia, und alle Hoffnungen, eines Tages wieder unter stabilen Verhältnisse in die Heimat zurückkehren zu können, zerschlugen sich für Jahrzehnte.
Was macht nun dieses erzwungene Exil mit dem Individuum, mit der Familie? Wie kann man eine stimmige Identität und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln, wenn man von der Gesellschaft, in der man aufwächst, als Fremdkörper betrachtet und diskriminiert wird? Wie kann familiärer Zusammenhalt als Gegengewicht funktionieren, wenn spätestens in der zweiten Generation selbst die gemeinsame Sprache wegbricht? Welches Somalia ist die „echte Heimat“, mit der man sich verbunden fühlen will? Ist es die Gesellschaft der dörflichen Kamelhüter, in der die Mutter der Erzählerin aufwuchs und als junges Mädchen dem grausamen Ritual der Genitalverstümmelung unterworfen wurde? Ist es das postkoloniale Somalia der späten 1950er Jahre, - formal keine Kolonie mehr, aber in einem irrwitzigen Akt von der UNO wiederum der ehemaligen Kolonialmacht Italien treuhänderisch unterstellt? Das Somalia der 1970er Jahre als Siad Barre einen an der Sowjetunion orientierten Sozialismus einführen wollte? Oder das durch Bürgerkriegswirren und Auseinandersetzung von Warlords in einen Taumel als Gewalt, Chaos und Gesetzlosigkeit gestürzte Somalia der 1990er Jahre? Das Somalia der Gegenwart, der fast nur noch mit dem despektierlichen Etikett „gescheiterter Staat“ assoziiert wird?
Von dieser Hilflosigkeit, und vor allem diesem Schmerz, dem Jirro, wie es in ihrer Muttersprache genannt wird, diesem Schmerz in Bezug auf die eigene Geschichte, die eigenen Versuche der Identitätsfindung, handelt dieses packende, aber über Strecken auch schmerzhaft zu lesende Buch Igiaba Scegos.
Ich tue mich etwas schwer, es einen Roman zu nennen. Eigentlich ist es eher ein autofiktionaler Essay in Briefform. Das ganze Buch ist angelegt als ein einziger langer Brief der Ich-Erzählerin, die unmissverständlich viele biographische Übereinstimmungen mit der Autorin aufweist, an ihre schon lange im frankophonen Teil Kanadas wohnende Nichte.
Es ist ein Versuch, der Nichte die eng mit der politischen und kulturellen Entwicklung Somalias verwobene Familiengeschichte zu erzählen, - Gemeinsamkeiten zu beschwören, um den verbindenden Faden des familiären Zusammenhalts und der gleichen kulturellen Herkunft sich nicht auflösen zu lassen, und wenn es nur Gemeinsamkeiten in den ähnlichen Herausforderungen sind. Es ist ein Versuch, der schon weitgehend akkulturierten zweiten und dritten Generation überhaupt ein Verständnis für die gemeinsame Geschichte, und auch für die Traumata der Eltern- und Großeltern-Generation zu vermitteln, - um Lebenswelten und um um Tragiken des Lebens, die einer im Westen Kanadas in gesicherten Mittelstandsverhältnissen aufwachsenden Millenniums-Nichte vorkommen müssen, wie Ereignisse von einem fremden Stern.
Der Brief an die Nichte kreist daher immer wieder auch um die Erlebnisse und Traumata der Eltern der Erzählerin, also die Großeltern der Adressatin. Berichtet von der Herkunft und Verwurzelung in sehr traditionellen, dörflichen Strukturen, - dem verlockenden Bildungsversprechen und der Faszination am Aufstieg in die Bildungs- und Funktionselite des Landes, dem Spagat zwischen der Herkunftsprägung aus der Welt des Kamelhütens und Ziegen-Melkens, - und dem großen politischen Parkett. Dann plötzliches Exil und Absturz in die Bedeutungslosigkeit, Perspektivlosigkeit, bis hin zur persönlich empfundenen völligen Nutzlosigkeit. Und was es mit den Kindern solcher Eltern macht, die die eigenen Eltern primär als Gestrandete, als von der Umgebungskultur nicht für voll genommene Personen erlebt. Das Buch ist ohne Zweifel über Strecken auch schmerzhaft und verstörend zu lesen.
Alles wird aber erzählt, in einem zwar persönlich sehr bewegten, engagierten Ton, aber ohne den Gestus des Mitleidheischenden, ohne ein Bespiegeln der Opferrolle.
„Wir sind keine Opfer. Wir sind nur Überlebende.“ Das ist für mich eines der stärksten Zitate des Buches, der auch exemplarisch für den Stolz, das Selbstbewusstsein, den Lebenswillen der Erzählerin und ihrer Familie steht.
Die Familiengeschichte und die Biographie der Ich-Erzählerin werden nicht linear erzählt, sondern immer wieder durch Vor- und Rückgriffe gebrochen, die thematisch ausgelöst werden durch Kernbegriffe aus der somalischen Muttersprache, wie das Wort Jirro (für Schmerz), Die politischen Wirren um 1990, die plötzliche Abreise der Mutter nach Somalia, mitten in die Wirren des in apokalyptische Gesetzlosigkeit und Zerstörungsorgien fallenden Mogadischu, über Monate ohne jegliches Lebenszeichen, ohne jegliche Kontaktmöglichkeit, haben in der Psyche der pubertierenden Ich-Erzählerin tiefe Wunden gerissen. Schonungslos berichtet Igiaba von der Angst, der Hilflosigkeit, den verzweifelten Versuchen, in täglichen Bulimie-Attacken die Bilder von Gewalt und Waffen buchstäblich aus sich herauszukotzen. Das Buch hat dadurch auch etwas von einer schmerzhaften Selbstentblößung, - es ist eine Autorin, die auch ihre Wunden zeigt. Aber nicht aus sensationalistischer Haltung, aus Exhibitionismus oder um nach Mitleid zu haschen. Man spürt den dokumentarischem Gestus und das engagierte Anliegen, dieser in einer ganz anderen Welt lebenden Nichte – und damit auch uns Leserinnen und Lesern, einen Hauch von Ahnung davon zu vermitteln, in welchen Spannungsfeldern sich diese Eltern- und Großelterngeneration bewegt hat, - um nicht nur Bewusstsein für die kulturellen Wurzeln und Identität zu schaffen, sondern vor allem auch ein Verständnis für die Traumata, die Abwehrmechanismen, die Brüche in den Persönlichkeiten, die zerplatzten Träume und die daraus resultierenden Kompensationsmechanismen von Eltern, Onkeln, Tanten und Großeltern. Und bei all dem Schrecklichen, dass man dabei erzählen muss, das Schöne, Bewahrenswerte, Edle der eigenen Kultur zeigen zu können, - als etwas, auf das man auch stolz sein kann, dass man auch im Exil, in der neuen Umgebungskultur offen zeigen und in die Gesellschaft einbringen kann, um diese zu bereichern.
Also: Igiaba Scego: Kassandra in Mogadischu: sicherlich kein Wohlfühlbuch zum Kuscheln bei Kerzenschein, aber eine faszinierende Stimme aus Italien, - wunderbar für das Deutsche Lesepublikum übersetzt von der großartigen Verena von Koskull.
Die authentisch und packend dargestellten Erlebnisse, Erfahrungen, Schutzreaktionen und Kompensationsmechanismen somalischer Exilanten in Italien sind sicherlich auch auf unsere deutsche Realität übertragbar und helfen uns, gegenüber den Lebenswelten und Biographien der im eigenen Land lebenden Exilanten sensibler und empathischer zu werden. Ein großes, ehrliches und notwendiges Buch.