Stiefkinder der Republik
Das Heimsystem der DDR und die Folgen
von Angelika Censebrunn-Benz (Autorin)
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Erscheinungstermin 14.02.2022 | Archivierungsdatum 28.03.2022
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Zum Inhalt
Von den Eltern im Stich gelassen oder vernachlässigt. An den Rand gedrängt, weil sie politisch oder sozial nicht angepasst waren – knapp 500.000 Kinder und Jugendliche haben das Heimsystem der DDR durchlaufen. Ihre Erfahrungen sind oftmals von Gewalt und Unterdrückung geprägt. Angelika Censebrunn-Benz befasst sich seit Jahren mit der Geschichte der Jugendhilfe in der DDR. Sie hat zahlreiche ehemalige Heimkinder getroffen und interviewt. In ihrem Buch gibt sie einen Überblick über die Geschichte der Zwangserziehung in der DDR und zeichnet in einfühlsamen Porträts Lebenswege ehemaliger Heimkinder nach.
Von den Eltern im Stich gelassen oder vernachlässigt. An den Rand gedrängt, weil sie politisch oder sozial nicht angepasst waren – knapp 500.000 Kinder und Jugendliche haben das Heimsystem der DDR...
Verfügbare Ausgaben
AUSGABE | Hardcover |
ISBN | 9783451390111 |
PREIS | 20,00 € (EUR) |
Rezensionen der NetGalley-Mitglieder
als gebundene Ausgabe: 20.- Euro, 240 Seiten, erschienen am 14.02.22 im Verlag Herder
als Kindle Ausgabe: 15,99 Euro, 241 Seiten, erschienen am 14.02.22 im Verlag Herder
Ich habe dieses Buch als digitales Leseexemplar vom Verlag erhalten und bedanke mich dafür ganz herzlich beim Verlag und bei Netgalley.
Dieses Buch beleuchtet das Leben der Kinder und Jugendlichen in den staatlichen Heimen der ehemaligen DDR. Auch in der DDR nimmt das Jugendamt Kinder und Jugendliche in Obhut, die von den Eltern vernachlässigt oder gar verlassen werden. Ganz oft werden Kinder aber auch aus den Familien genommen, weil sich die Eltern politisch nicht regelkonform verhalten, in die BRD ausreisen wollen oder sonstwie auffallen.
Das Heimsystem für staatliche Umerziehung ist oft geprägt von unvorstellbarer Gewalt gegen die Kinder, nicht selten auch psychischer und sexueller Missbrauch durch ältere oder stärkere Insassen und Erzieher. Die Kinder und Jugendlichen wurden stark isoliert, oft unter Psychopharmaka gesetzt und ihr Wille systematisch gebrochen. Es gab kaum individuelle Entfaltung, weil die Kinder schon sehr früh in Gruppen eingegliedert wurden und sie sich dort unterzuordnen hatten. Die staatlich geregelte Fürsorge der DDR bot eine eine gute Kontrollmöglichkeit bis in die Familien hinein und das schon beginnend mit der Ganztagsbetreuung in der Kinderkrippe. Diese ideologische Erziehung ging dann weiter bei den Pionieren und in der FDJ.
Die Heime der DDR sind unterteilt in Normalheime, Spezialheime, Jugendwerkhöfe (die besonders schlimm waren) und Jugendhäuser, die den Werkhöfen sehr ähnlich waren aber direkt dem Ministerium des Inneren und somit dem Strafvollzug unterstellt waren. Die Jugendhäuser waren somit Haftanstalten für Jugendliche ab 14 Jahren. Dort saßen aber nicht nur Kriminelle ein, sondern auch Jugendliche die gegen die sozialistischen Normen verstoßen haben.
Allgemein gab es in den Heimen keine größeren Bildungsmöglichkeiten und auch keine Aussichten auf Berufsausbildung. Meist hatten die Jugendlichen gemeinnützige Arbeiten oder schwere Arbeit in den Fabriken oder der Landwirtschaft zu erledigen für ein ganz geringes Taschengeld. Die Teilfacharbeiterausbildung die sie erhielten wurde nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht anerkannt.
Da die Kinder oft flohen aus den Heimen wurden sie mehrfach weiter gereicht von Heim zu Heim und kamen fast alle irgendwann im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau an, der der schlimmste von allen war. Die Beschreibung der Zustände dort hat mich echt an meine Grenzen gebracht beim Lesen. Man braucht echt starke Nerven für dieses Buch und hat oft mit den Tränen zu kämpfen. Durch die einzelnen Interviews mit ehemaligen Heimbewohnern wird einem das ganze Ausmaß so richtig bewußt. Man denkt doch sehr lange darüber nach. Nicht nur über die schlimmen Dinge, die diese Kinder erlebt haben, sondern auch welche Auswirkungen das auf die Erwachsenen heute noch hat. Sie sind ja kaum in der Lage ihr normales Leben heute irgendwie zu meistern. Diese Heime waren ja kein Ort der Fürsorge und Obhut sondern die schlimmsten Kindergefängnisse die man sich nur vorstellen kann. Ich finde, all die Menschen die da mitgemacht haben, gehören zur Verantwortung gezogen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan und rein mein emotionales Empfinden. Man muss sich aber auch klar werden, dass nicht alle Erzieher freiwillig mitgemacht haben und oft selbst Opfer waren. Das wird wohl leider nie wirklich aufgearbeitet werden. Deshalb finde ich das Buch besonders lesenswert, denn hier wird all diesen Kindern und Jugendlichen eine Stimme gegeben und das Unrecht welches ihnen wiederfahren ist wird aufgedeckt.
Ich möchte euch dieses Buch wirklich ganz dringend ans Herz legen und empfehlen, auch wenn das Lesen weh tut. Ich komme ja selbst aus der ehemaligen DDR, wußte, dass es Heime und Jugendwerkhöfe gab, hatte aber überhaupt keine Ahnung was da vor sich ging. Es ist auch erschreckend zu erfahren, wie schnell man in diese Mühle hätte selber kommen können und wie froh und dankbar man sein muss, dass das nicht passiert ist.
Eine Sternebewertung gebe ich aus Respekt vor den Menschen die diese schrecklichen Dinge erleben mussten nicht ab. Hier aber die Sterne für die Empfehlung, weil ich die vergeben muss.
Eine Kindheitserinnerung: Mit etwa zwölf Jahren nahm ich an einem Ferienlager teil; ein „Programmpunkt“ war der Besuch in einem Kinderheim, wo wir einen Tag lang relativ frei mit den Heimkindern auf deren Außengelände und in den Gruppenräumen spielen durften (oder dies eher sollten) und am Mittagessen in deren Speisesaal teilnahmen. Sonderlich entspannt verlief das nicht, für beide Seiten. Dieser Tag im Kinderheim geht mir nun seit Jahrzehnten nach; bis heute stellt sich mir die Frage, welches Ziel damit verfolgt wurde: Abwechslung für die Heimkinder? Aber wozu, denn über diesen einen Tag der Begegnung hinaus war das Knüpfen von dauerhaften Freundschaften ja nicht möglich, nicht vorgesehen. Die Verdeutlichung der Privilegierung von uns Nicht-Heimkindern und damit verbunden vielleicht eine indirekte Bedrohung, was einem blühen könnte, wenn…? Ich habe oft darüber nachgedacht, und vor einiger Zeit keimte dann der Wunsch auf, mich einmal intensiver mit dem Heimsystem der DDR zu beschäftigen. Dieses Buch konnte zwar letztendlich nicht meine konkreten Fragen beantworten, aber das Heimsystem schlüssig in den Gesamtkontext der DDR-Geschichte und -Ideologie rücken.
Die Autorin beginnt mit einer gut recherchierten und pointierten Zusammenfassung der politischen und gesellschaftlichen Hintergründe sowohl in der frühen als auch in der späteren DDR. (Gelegentliche Schnitzer oder unscharfe Vermischungen outen sie selbst dabei schnell als Wessi – z.B. ergibt dieser Satz nicht viel Sinn: „Die ideologische Erziehung setzte sich für die Sechs- bis Vierzehnjährigen unmittelbar anschließend in der Pionierorganisation Ernst Thälmann in der FDJ fort.“ Abgesehen von der Grammatik: Wer das Pionier- und FDJ-System selbst durchlaufen hat, würde das inhaltlich sauberer aufschlüsseln.)
Dennoch hat mich beeindruckt, wie klar die Ideologie der angestrebten Persönlichkeitsformung hin zum "sozialistischen Menschen" in der DDR hier auf den Punkt gebracht wurde – dieses Kapitel möchte ich allen an der Geschichte von totalitären Staaten Interessierten absolut empfehlen.
An sich schon monströs genug, wurden diese Ideen im Heimsystem noch pervertiert durch die Gewalt, mit der sie dort durchgesetzt wurden. Es war schwer, von den furchtbaren Bedingungen zu lesen, unter denen die Kinder – nicht nur solche „aus schwierigen Verhältnissen“, sondern auch Kinder von Republikflüchtigen oder Leuten, die dies planten – in den Heimen leben mussten: Körperlich oft schwer verletzt, psychisch gebrochen, oft hungrig, jeglicher sozialen Bindungen beraubt, weil die Erzieher*innen grausam waren oder schlicht zu oft wechselten, wo jegliche Solidarität der Kinder untereinander durch drakonische Kollektivstrafen oder Bestrafungen durch die Gruppe selbst untergraben wurde… Die Kinder erlebten immer nur Drill, standen unter permanenter Beobachtung und unter Druck, lebten ohne jegliche Privatsphäre, ohne Zeit und Raum für Individualität, ohne Entwicklungsmöglichkeiten für ein gesundes Selbstbewusstsein. Noch dazu meist schlecht ausgebildet (die meisten durchliefen ein System der unqualifizierten Zwangsarbeit) und ohne Fähigkeiten, nach der Entlassung aus dem Heimsystem selbstbestimmt und angstfrei leben zu können, gelang vielen nach Erreichen der Volljährigkeit nicht der Übergang in ein „normales“ Leben mit Beruf, Bindungen, Freundeskreis. Viele wurden aufgrund der erlittenen Belastungen erwerbsunfähig, die meisten fürchteten erneute Stigmatisierungen, wenn ihre „Vorgeschichte“ dem Umfeld bekannt würde.
So sehr mich die Einzelschicksale der Menschen, die im Buch zu Wort kommen, bewegt haben, so passend und würdevoll fand ich auch den Umgang der Autorin mit diesen Menschen. Nie wurden sie vorgeführt, immer gab die Autorin die Begegnungen mit den Betroffenen voller Respekt wieder und auch mit Verständnis für scheinbare Widersprüche, die sich aus den subjektiven Wahrnehmungen und Erinnerungen verschiedener Menschen ja zwangsläufig ergeben. Immer blieb ihre Haltung voller Empathie und mit Blick auf das Gesamtleben dieser Personen in einem historischen Kontext, der für viele Menschen auch ohne Heimhintergrund schon von starken Brüchen geprägt war. Umso mehr Respekt, Aufmerksamkeit und Unterstützung verdienen die Menschen, die zusätzlich noch die Maschinerie des DDR-Heimsystems erdulden mussten und für den Rest ihres Lebens davon geprägt sind.
Problematisch
Kinder und Jugendliche mit auffälligem Verhalten sollten durch Heimerziehung zum Wohlberhalten bewegt werden. Jugendheime für Verlassene und/ oder verlassene Kinder ermöglichten ein „normales“ Leben mit Schulbesuch, aber es gab auch Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe für Schwererziehbare. Schlimmstes Beispiel: der Geschlossene Jugendwerkhof in Torgau. Einsperren im sogenannten Fuchsbau (Begriff ist selbsterklärend), Kollektivstrafen oder stundenlanger Strafsport war möglich. Zwar gab es den Schulbesuch und eine einfache Ausbildung, aber alles dort unter gefängnisähnlichen Bedingungen und harten Strafen. Einige wenige positive Erfahrungen gibt es, auch Zuwendung und Hilfe, jedoch selten.
Angelika Censebrunn-Benz belegt ihre Aussagen mit zahlreichen Beispielen. Erschütternd, mit Empörung zu lesen. Einigen Aussagen stehe ich allerdings kritisch gegenüber: Anfang der 80er Jahre mussten nicht alle Lehrer für 12 Monate in einem Heim Dienst leisten. Die Staatssicherheit hatte keine eigene Uniform.
Im zweiten Teil werden Schicksale, die die Autorin in ausführlichen Gesprächen erfragt hat, eingestellt. Auch die langfristigen Auswirkungen werden in einem letzten Abschnitt geschildert.
Natürlich kann ein Heim keine liebevolle Familie ersetzen, aber gewiss besseres leisten als viele der Kinder- und Jugendheime. Höchste Zeit, dieses Kapitel der DDR- Geschichte bekannter zu machen und den Leser für Kinderschicksale, egal wo, zu sensibilisieren.
Informatives Sachbuch aus dem Herder Verlag.
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