Wessen Erinnerung zählt?
Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute
von Mark Terkessidis
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Erscheinungstermin 04.09.2019 | Archivierungsdatum 03.10.2019
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Zum Inhalt
Als das Deutsche Reich am 28. Juni 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnete, gingen die überseeischen Kolonien an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs über. Lange vergessen, kehrt die Kolonialperiode in Ländern wie Namibia, Kamerun oder Ruanda in den letzten Jahren in die Erinnerung zurück. Was bedeutet dieses Wiederauftauchen für die Bundesrepublik? Müsste in der »postkolonialen« Sichtweise nicht auch das deutsche Eroberungsstreben in Richtung Osten eine Rolle spielen? Die neue Erinnerungskultur hat gravierende Auswirkungen für das Selbstverständnis eines Landes, dessen Bevölkerung immer diverser wird. Der lange Schatten der deutschen »Kulturmission« findet sich heute etwa im Umgang mit der »Schuldenkrise«, mit Migration und Flucht und im alltäglichen Rassismus.
Mark Terkessidis, renommierter Migrations- und Rassismusforscher, macht mit seinem Blick in die Vergangenheit aktuelle Debatten nachvollziehbar und zeigt, an welchen Stellen sie in eine neue Richtung gelenkt werden müssen. Zudem macht er sichtbar, welche Fragen sich ergeben, wenn auch die Erinnerung jener zählt, die eingewandert und damit Teil der Gesellschaft geworden sind.
Als das Deutsche Reich am 28. Juni 1919 den Vertrag von Versailles unterzeichnete, gingen die überseeischen Kolonien an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs über. Lange vergessen, kehrt die...
Verfügbare Ausgaben
AUSGABE | Anderes Format |
ISBN | 9783455005783 |
PREIS | 22,00 € (EUR) |
SEITEN | 224 |
Rezensionen der NetGalley-Mitglieder
Unter Kolonialismus versteht man landläufig die Zeit der – meist afrikanischen – Koloniebildung und denkt in Zusammenhang mit Deutschland an das 19. Jahrhundert. Der Autor dehnt den Begriff aus, geht auch auf Handelsvertretungen Deutscher in Südamerika ein, die weiter zurückliegen und nimmt die Situation in den osteuropäischen Nachbarstaaten unter die Lupe. Ausgehend vom Verhältnis Herrschender - „Eingeborener“ betrachtet er, welche Auswirkungen heute noch spürbar sind und wie sich Rassismus entwickelt hat.
Das erste Kapitel widmet sich „den Spuren von Kolumbus“. Von Beginn an ist klar, dass der Autor in Bezug auf die Geschichte einen neuen Blickwinkel einnehmen will, der nicht derjenige der herrschenden Europäer ist. Schon der Blick auf die Handelsvertretungen, der zu den spanischen Eroberungen in Amerika führt, zeigt ein schonungsloses Bild bei dem nicht nur Opferzahlen genannt werden, sondern auch der Versuch diesen ein Gesicht zu geben.
Die Betrachtungen Südamerikas führen zu Alexander von Humbold, der hier absolut nicht als Held dargestellt, sondern kräftig kritisiert wird. Weniger sind es die kolonialistisch geprägten Äußerungen, die geprägt von seiner Zeit sind, die den Autor stören, sondern vielmehr was in heutiger Zeit aus dem „Erbe“ Humbolds gemacht wird. So wird das Humbold-Forum in Berlin scharf kritisiert. Die Kritik führt auch zu anderen Museen, bei denen sich die Frage stellen muss, woher die Objekte kommen und in wie weit sie dem Kolonialismus/Nationalsozialismus entsprungen sind – was an sich ein Teil der Geschichte mancher Organisationen sein könnte, wenn es eine entsprechende Aufarbeitung geben würde. Dabei wird auch die Rückgabe vieler kultureller Güter angesprochen.
Das zweite Kapitel „Unser Beitrag zur Globalisierung“ geht zum einen auf die deutschen Kolonien in Afrika ein. Dabei werden nicht die gleichen Aspekte aufgegriffen, wie in den Betrachtungen des ersten Kapitels. Vielmehr stehen hier die Abwehrhaltungen der Einheimischen den Kolonialherren gegenüber – samt gewalttätiger Reaktionen und Vernichtungskriegen letzterer – im Mittelpunkt. Interessanter noch fand ich die Fakten, die hier über die Beziehungen zwischen dem deutschen Reich und den islamischen Staaten des nahen Ostens gegeben werden.
Das dritte Kapitel richtet seinen Blick auf Europa. Obwohl in diesem Kontext normalerweise nicht von Kolonialisation gesprochen wird, wird hier dargelegt, wie im deutschen Reich besonders aber auch in der Zeit des Nationalsozialismus Kolonialpolitik auf Länder wie Polen oder Griechenland angewandt wurde und welche Folgen heute noch spürbar sind.
Den Abschluss bilden all jene Überlegungen, die aus den geschichtlichen Fakten erfolgen. So werden Fragen aufgeworfen, was Erinnerung sein soll, von wem sie ausgehen soll und wie die heutige Vielheit die Erinnerungen und den Umgang damit beeinflussen kann. Nicht alle der Fragen werden beantwortet – das Buch sieht sich mehr als eine Anregung zur Diskussion als eine geschichtlich/zukunftsweisende Abhandlung – auch wenn es zu vielen Themen Lösungsansätze gibt.
Besonders das erste Kapitel kam mit viel Kritik einher. Die manchmal harsche Beschreibung erschien mir auf den ersten Blick sehr radikal. Es steht gegenüber der unreflektierten Glorifizierung, die es anprangert. Ab dem zweiten Kapitel ändert sich der Ton. Kritik wird zwar immer noch ausgesprochen, das Ganze wirkt aber sachlicher. Viele Fakten werden über Zitate gegeben. Auch die Nennung verantwortlicher/involvierter Personen einerseits, von Zeitzeugen und Historikern andererseits gibt den Ereignissen ein Gesicht und lässt über kleine biografische Auszüge, Aussagen und geschichtlichen Fakten die Zusammenhänge erahnen.
Das Thema Rassismus wird durchgehend aufgegriffen. War er in Zeiten des „Kolonialismus“ ein Gedanke, der sich aus einer vermeintlichen Einbezugnahme der Anderen ergibt, zeigten manche Beispiele auch, dass die Kolonialherren auch daran beteiligt waren, Rassismus zwischen einzelnen einheimischen Gruppen aufkommen zu lassen. Besonders interessant fand ich hier, wie sich Rassismus im Laufe der Zeit geändert hat.
Um ehrlich zu sein empfand ich zu Beginn einige der Ausführungen als sehr harsch formuliert. Ich fand mich immer wieder in der Position wieder, instinktiv den hier angesprochenen „Europäer“ und seine Geschichte verteidigen zu müssen. Allerdings fand ich mich auch immer wieder in der Position wieder, den Argumenten wenig entgegensetzen zu können. Den meisten Aussagen musste ich zustimmen, was mich zum Nachdenken gebracht hat, da ich angesichts einiger fast schon als Angriff formulierten Bemerkungen gerne widersprochen hätte. In dieser Hinsicht empfand ich die sachlich formulierten Teile des Buches einfacher zu lesen – auch wenn ich der Meinung bin, dass das Thema nicht einfach sein sollte.
Fazit: Ich empfand die Lektüre nicht immer einfach zu lesen – manche Wahrheiten sind nicht leicht zu verdauen – aber als Diskussionsgrundlage (auch mir selbst gegenüber) interessant.